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Heidelberg Materials

Grüner wird's nicht

Heidelberg Materials: Grüner wird's nicht
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Heidelberg Cement heißt jetzt Heidelberg Materials, hat sich ein Logo verpasst, das auch einer Bio-Müslimarke gut stehen würde, und verspricht den Marsch in eine nachhaltigere Zukunft. Wie glaubwürdig sind die Versprechen des Unternehmens? Wir blicken nach Heidelberg, Indonesien und Norwegen.

Ein Bauzaun zieht die Grenze. Abgedeckt mit einer weißen Plane, teilt er an diesem grauen Donnerstag Mitte Mai den Platz vor dem SNP Dome in Heidelberg. Er trennt Menschen und Meinungen. Die einen fachen die Klimakrise an, die anderen stellen sich ihr entgegen. Das Bündnis "End Cement" hat Banner aufgehängt, Infotafeln aufgestellt und die Boxen aufgedreht. 20, 30 Menschen, die meisten ziemlich jung. Protestlieder schallen über den Zaun hinweg. Wo jenseits der weißen Plane eine deutlich ältere Generation die Sicherheitsschleuse zur Arena betritt. In wenigen Minuten startet die Hauptversammlung von Heidelberg Materials.

So heißt Heidelberg Cement, der zweitgrößte Zementhersteller der Welt, seit September 2022. Den Zement hat Vorstandschef Dominik von Achten aus dem Firmennamen gestrichen. Dafür ist ein grünes Blättchen im Logo aufgetaucht. Doch an seinem Kerngeschäft mit dem Baustoff, bei dessen Produktion Unmengen CO2 entstehen, hält der Konzern fest. Wäre die weltweite Zementindustrie ein Staat, stünde sie in der Liste der Klimasünder derzeit auf Platz drei – hinter China und den USA. 2022 war Heidelberg Materials für Emissionen in Höhe von knapp 90 Millionen Tonnen CO2 verantwortlich, zwei Drittel davon stammen allein aus der Produktion von Zement. Der Konzern ist damit der zweitgrößte Kohlendioxid-Emittent in Deutschland – direkt nach RWE. Würden alle Unternehmen der Welt so wirtschaften, wäre unsere Erde bis 2050 um 10,3 Grad wärmer, wie das Frankfurter Beratungsunternehmen "right.based on science" im Jahr 2019 berechnete.

Die Aktionär:innen, zu denen auch Multimilliardär Ludwig Merckle und die US-amerikanische Investmentgesellschaft Blackrock gehören, scheint das nicht zu stören. 2,60 Euro verdienen sie 2023 mit jeder Aktie. Von dem Protest vor der Halle bekommen sie dank des Bauzauns wenig mit. Die meisten reagieren abweisend, wenn die Aktivist:innen sie ansprechen. Mehr als sechs Stunden lang wird Dominik von Achten gleich versuchen, die Aktionär:innen davon zu überzeugen, dass ihr Geld bei ihm in guten Händen ist. Der Jurist und Volkswirt kam 2007 von der Unternehmensberatung Boston Consulting zum Zementhersteller. Seit 2020 ist er Vorstandschef. Als solcher muss er sich nicht nur den Fragen seiner Aktionär:innen stellen, sondern auch den Vorwürfen von Kritiker:innen wie dem Bündnis "End Cement". Dort haben sich unter anderem Fridays for Future, Extinction Rebellion und die örtliche Greenpeace-Gruppe zusammengeschlossen. Sie werfen von Achten vor, Menschenrechte zu missachten, die Umwelt zu zerstören und den Klimawandel anzuheizen.

Doch nicht nur die Aktivist:innen sind zusehends alarmiert vom mangelnden Engagement des Weltkonzerns in Sachen Klima. So investieren die Fonds mit Nachhaltigkeitsmerkmalen der Investmentgesellschaft Deka nicht mehr in Heidelberg Materials. Um das zu ändern, müssten die CO2-Emissionen "signifikant gesenkt werden", sagt Deka-Expertin Cornelia Zimmermann. Selbst von Achten sprach in einem Interview mit der Zeit von einem "Warnsignal von Investoren", die zunehmend einfordern, dass sich Unternehmen glaubwürdig mit Klimaschutz auseinandersetzen. Und das tut von Achten. Zumindest sagt er das. Oft. Auf der Hauptversammlung betont er immer wieder, wie groß der Fortschritt seines Unternehmens schon sei, wie ehrgeizig die Ziele zum Klimaschutz – "die ambitioniertesten der Branche". Bis 2030 will Heidelberg Materials den C02-Ausstoß pro Tonne Zement auf 400 Kilogramm senken. Der Schweizer Konkurrent und Weltmarktführer LafargeHolcim hat sich 420 Kilogramm zum Ziel gesetzt.

Nur: Das Heidelberger Unternehmen hat die Emissionen pro Tonne Zement 2022 gerade einmal um zwei Prozent auf 551 Kilogramm reduziert – oder wie von Achten sagt: "Ganze zwei Prozent in einem einzigen Jahr." Fährt es in diesem Tempo fort, wird es die selbst gesteckten Klimaziele nicht erreichen. Bis 2050 will Heidelberg Materials klimaneutral sein, bis 2030 die Hälfte seines Umsatzes mit nachhaltigen Produkten erwirtschaften, die CO2-arm sind oder zumindest zum Teil aus recyceltem Material bestehen. Zu der Frage, wie das Unternehmen diese Ziele genau erreichen will, hätten wir gerne ein Interview geführt, die Pressestelle war allerdings nur zu schriftlichen Antworten bereit.

Heidelberg: die Stadt als Rohstofflager

Vier Tage vor der Hauptversammlung. Über dem Patrick-Henry-Village im Südwesten Heidelbergs hängen tiefe Wolken. In den Schlaglöchern der absurd breiten Straßen steht das Wasser. Überall zwängt sich Grün aus den Ritzen, überwuchert Sitzgruppen, Spielplätze, Gehwege. Kaninchen leben hier und manchmal, berichtet Carla Jung-König, springen auch Rehe aus dem hüfthohen Gras. Jung-König arbeitet beim Stadtplanungsamt Heidelberg und war im Team der Internationalen Bauausstellung (IBA), das eine Vision für den Stadtteil entworfen hat: Eine "Wissensstadt von morgen" soll hier entstehen. Mit Wohnungen für 10.000 Menschen und Arbeitsplätzen für 5.000. Doch nicht nur auf den vorhandenen Fundamenten. "Das Patrick-Henry-Village wurde als autogerechte Siedlung geplant", erklärt Jung-König. "Das würde man heute natürlich völlig anders machen." Und dafür müssen nun einige der 325 Gebäude abgerissen werden.

465.884 Tonnen Material, gut die Hälfte davon Beton – das rund 100 Hektar große Areal ist ein gigantisches Rohstofflager. Das hat der Urban Mining Screener geschätzt, ein Programm des Umweltberatungsinstituts EPEA. Bohrungen liefern weitere Details: Welche Qualität hat der Beton, welche Dämmmaterialien sind verbaut, gibt es Schadstoffe? Bisher wird beim Abriss von Gebäuden nur ein Bruchteil wiederverwertet – etwa im Unterbau von Straßen. Heidelberg will das mit dem Pilotprojekt "Circular City" ändern. Der gesamte Gebäudebestand der Stadt soll analysiert werden und ein digitales Materialkataster künftig Auskunft darüber geben, welches Material in welcher Qualität wo und in welcher Menge verbaut worden ist: Bergbau in der Stadt, Urban Mining. Das Patrick-Henry-Village macht den Anfang.

Heidelberg Materials ist Partner des Projekts. Für das Unternehmen eine Chance, "das enorme Potenzial von Betonrecycling für den Städtebau der Zukunft" aufzuzeigen, wie es von Achten in einer Pressemitteilung formuliert. So kann der Abrissbeton der Gebäude zerkleinert, in seine Bestandteile getrennt und in den Baukreislauf zurückgeführt werden. Beton besteht aus Wasser, Zuschlagstoffen wie Sand oder Kies und Zement als Bindemittel. Das Abbruchmaterial kann Sand und Kies ersetzen. Das spart Rohstoffe – allerdings bleibt der Anteil von Zement, dessen Herstellung den hohen CO2-Ausstoß verursacht, der gleiche. Der Konzern arbeitet zwar an einem Verfahren, bei dem mit Zementstein auch ein CO2-armer Rohstoff für die Zementherstellung wiederverwendet wird – noch ist dieses allerdings nicht marktreif.

Wenn die Produktion von Zement oder Beton 30 Prozent weniger CO2 ausstößt, Produkte zu 30 Prozent aus recycelten Bestandteilen bestehen oder 30 Prozent weniger Material benötigen, gelten sie nach den Kriterien des Unternehmens als nachhaltig. Doch wie hoch die Absatzzahlen seiner nachhaltigen Produkte konkret sind, möchte das Unternehmen "aus Wettbewerbsgründen" nicht sagen. Zuletzt hat Heidelberg Materials zahlreiche Unternehmen im Bereich Baustoffrecycling zugekauft. Das legt den Verdacht nahe, dass die nachhaltigen Produkte die konventionellen nicht ersetzen, sondern das Portfolio erweitern sollen. Man könnte es auch so verstehen: Nicht die Kerngeschäfte sollen nennenswert nachhaltiger werden, sondern die Zukäufe vermutlich für den grünen Anstrich sorgen.

Indonesien: Proteste der Bevölkerung

Ein Blick auf die Zahlen bestärkt diesen Verdacht: Heidelberg Materials kann heute etwa 30 Prozent mehr Zement herstellen als noch vor zehn Jahren. Dafür müssen zunehmend die Rohstoffvorkommen anderer Länder herhalten. Anders als in Deutschland, wo die Produktionskapazität seit 2012 stagniert, ist sie andernorts stark gewachsen – im Westpazifik um etwa 40 Prozent. In Afrika und dem östlichen Mittelmeerraum hat sie sich sogar mehr als verdoppelt. Immer wieder stoßen die Pläne für Fabriken, Mahlwerke und Steinbrüche jedoch auf Protest. So auch in Indonesien. Dort plant Heidelberg Materials seit über zehn Jahren eine Zementfabrik, über die der indonesische Bauer Gunretno sagt: "Die Fabrik wird unser Leben zerstören."

Auf 800 Hektar will die Firma Indocement, eine Tochter von Heidelberg Materials, in der Region Pati auf Nordjava Kalk abbauen und in Zement verwandeln. Auf weiteren 600 Hektar will der Konzern Ton gewinnen und noch einmal 160 Hektar sollen der eigentlichen Fabrik weichen. Noch wächst hier Reis, von dem die Bevölkerung lebt, nisten Fledermäuse in Höhlen und rasten Zugvögel auf ihrem Weg nach Süden. Das Kendeng-Gebirge, wie die Karstlandschaft heißt, ist außerdem ein natürlicher CO2-Speicher. Der Kalkstein, aus dem die Hügel bestehen, bindet beim Verwittern Kohlendioxid. Die unterirdischen Höhlen, die die Landschaft prägen, speichern außerdem den Monsunregen. Aus ihnen entspringen über 100 Quellen, die die Menschen mit Wasser versorgen. Bis 2010 stand das Kendeng-Gebirge unter Schutz.

Dann gab die Regierung etwa 5.000 Hektar für Bergbau und Industrie frei. Würde Heidelberg Materials seine Pläne umsetzen, wäre es wohl das Ende des fragilen Ökosystems. Das glauben nicht nur diejenigen, die gegen das geplante Werk protestieren. Das ergab auch eine Umweltanalyse, die der indonesische Präsident 2016 in Auftrag gab. Sie rät dringend vom Bergbau in der Region ab. Um die rund 35.000 Menschen zu schützen, die das Wasser aus dem Karstgebirge trinken oder damit ihre Felder wässern.

Einer von ihnen ist Gunretno, der nur diesen einen Namen hat. Er ist so etwas wie der inoffizielle Anführer der Sedulur Sikep, der ältesten Sozialbewegung Südostasiens, die einst gewaltfrei gegen die niederländischen Besatzer protestierte. Heute richtet sich ihr Protest nach Deutschland: "Geben Sie Ihr Vorhaben in Indonesien auf", fordert Gunretno von Dominik von Achten. "Vertrauen Sie uns, dass wir am besten wissen, wie wir unser Land bewirtschaften können – und zwar im Frieden mit Mutter Erde."

Der indonesische Bauer ist Mitte 50, trägt einen schwarzen Schnurrbart, ein schwarzes Shirt und sitzt für das Videotelefonat unter einem Baum vor seinem Haus. Im Hintergrund picken Hühner.

Es regnet. Seit Monaten seien Teile von Pati überflutet, erzählt er. So heftig sei es noch nie gewesen. Seit weite Teile des Kendeng-Gebirges Ende der 1990er-Jahre abgeholzt wurden, kommen die Fluten jedes Jahr: "Wenn jetzt auch noch Kalk abgebaut wird, wird das zu einer Umweltkatastrophe führen."

"Die Fabrik wird unser Leben zerstören"

2011 gründete Gunretno mit anderen Aktivist:innen, Umweltorganisationen, Wissenschaftler:innen und Einwohner:innen aus den umliegenden Gemeinden die JM-PPK, kurz für "Menschen, denen das Kendeng-Gebirge am Herzen liegt". 2021 vertrieben sie das Zementunternehmen Semen Indonesia aus Pati – mit Straßenblockaden, Demonstrationen und Klagen. Frauen betonierten ihre Füße ein und harrten tagelang vor dem Palast des Präsidenten in Jakarta aus.

Auch gegen Indocement zogen die JM-PPK vor Gericht. Der Vorwurf: Die Umweltverträglichkeitsprüfung, die das Unternehmen für den Abbau braucht, basiere auf falschen Behauptungen über die Ökologie des Karsts. Außerdem seien etwa zwei Drittel der lokalen Bevölkerung gegen das Zementwerk – und nicht, wie in dem Dokument behauptet, die Mehrheit dafür. 2015 gab ein Gericht den JM-PPK recht. 2016 legte Indocement Revision ein und gewann.

Im Jahr darauf reiste Gunarti, Mitgründerin der JM-PPK und neben Gunretno eines der bekanntesten Gesichter der Bewegung, nach Deutschland und sprach auf der Hauptversammlung. Die Hoffnung: Von Angesicht zu Angesicht müssten die Aktionär:innen doch verstehen, dass das geplante Werk ihre Heimat, ihr Leben zerstören würde. Gunarti traf den damaligen Vorstandsvorsitzenden Bernd Scheifele, der heute Aufsichtsratschef ist, sogar zu einem Gespräch. Er habe sie ernst genommen, sagte sie danach. Und er sei unsicher, ob er an den Plänen festhalten wolle.

Sechs Jahre später ist davon keine Rede mehr. Auf der Hauptversammlung bekräftigt von Achten, dass das Unternehmen die Fabrik bauen will. Auf Kritik reagiert er vage: Man werde den Karst nur oberhalb des Grundwasserspiegels abbauen, wolle außerdem die Abbaufläche verkleinern. Wie groß sie letztendlich sein soll, kann der Konzern auf Nachfrage allerdings nicht sagen. Außerdem habe der Oberste Gerichtshof Indonesiens die Rechtmäßigkeit der Umweltgenehmigung ja bestätigt. Wieso das Unternehmen die Untersuchung, auf der die Genehmigung beruht, dann nicht veröffentlicht, bleibt offen.

Gunretno überzeugen von Achtens Argumente ohnehin nicht. Er leistet weiter Widerstand. Zurzeit versuchen die JM-PPK vor allem, die Bäuer:innen davon abzuhalten, ihr Land an Indocement zu verkaufen. Seit fast zehn Jahren besetzen sie außerdem die Wege zu dem Gebiet, auf dem Heidelberg Materials Kalk abbauen will. Ein indonesisches Gesetz besagt, dass die Abbaugenehmigung erlischt, wenn ein Unternehmen drei Jahre lang nicht tätig wird. Und 2020 legten einige Gemeinden aus Pati bei der Nationalen Kontaktstelle für die OECD-Leitsätze in Deutschland Beschwerde ein: Heidelberg Materials verstoße in Indonesien gegen Menschenrechts- und Umweltstandards – zum Beispiel gegen das Prinzip des "free, prior and informed consent", das indigenen Völkern zugesteht, selbst darüber zu entscheiden, was mit ihrem Land und den dortigen Ressourcen passiert.

Wann die Nationale Kontaktstelle über die Beschwerde entscheidet, ist unklar. Solange das Ergebnis aussteht, darf der Konzern in Pati nicht aktiv werden. Gunretno fürchtet, dass er und die anderen Anwohner:innen am Ende mit Geld entschädigt werden sollen – für einen Ort, der den Sedulur Sikep auch spirituell viel bedeutet: "Das Kendeng-Gebirge ist mit Geld nicht aufzuwiegen", betont er. Trotz allem hat er die Hoffnung noch nicht aufgegeben: dass die Heidelberger am Ende gehen – so wie die Niederländer Jahrzehnte zuvor.

Norwegen: weg mit dem CO2

Fast romantisch schildert Dominik von Achten auf der Hauptversammlung den kalten Tag im Januar 2023, an dem er gemeinsam mit Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck das Zementwerk des Unternehmens im norwegischen Brevik besuchte. Zwei Männer, die sich einig sind, soll die Erzählung wohl transportieren. Darin, dass man Zementwerke eben nicht klimaneutral bekommt. "Außer man scheidet das CO2 ab", wie Habeck es formuliert – und wie von Achten es jederzeit unterschreiben würde.

Dass die Zementindustrie so viel CO2 ausstößt, liegt vor allem an der chemischen Reaktion, die der Produktion zugrunde liegt. Um Zement herzustellen, wird Kalkstein und Ton bei einer Temperatur von 1.450 Grad Celsius zu Zementklinker gebrannt. Wofür an sich schon sehr viel Energie notwendig ist. Die hohen Temperaturen zerlegen den Kalkstein in Calciumoxid, Hauptbestandteil des Zements, und in CO2. Auch wenn es möglich ist, diese Emissionen zu reduzieren – ganz vermeiden kann man sie wohl nicht.

Deshalb lautet die naheliegendste, die scheinbar einfachste Möglichkeit: weg mit dem CO2. Am liebsten weit weg, in ein Reservoir im Meeresboden der Nordsee, 2.600 Meter tief. In Brevik entsteht eine Anlage, die jährlich 400.000 Tonnen CO2 abspalten soll. Das ist etwa die Hälfte des Treibhausgases, das das Werk insgesamt ausstößt. Ein Schiff bringt es an die Westküste Norwegens. Dort wird das flüssige CO2 per Pipeline in Gesteinsschichten tief unter den Meeresboden gepresst. Auch wenn das Werk vermutlich erst Ende 2024 fertig ist, den dann erhältlichen "Net-Zero-Zement" vermarktet Heidelberg Materials schon jetzt lautstark. Und er ist auch in anderen europäischen Werken erhältlich – die in Brevik erzielten CO2-Einsparungen werden einfach auf den dort erhältlichen Zement angerechnet. Den Zement selbst macht das natürlich in keiner Weise klimafreundlicher.

Norwegen gilt als Vorreiter in der CCS-Technologie, kurz für "Carbon Capture and Storage", also dem Abscheiden und Speichern von Kohlendioxid in der Tiefe. Auf 80 Milliarden Tonnen CO2 schätzt das norwegische Öldirektorat die Speicherkapazität des Landes. Für Norwegen eröffnet sich hier ein ganz neuer Wirtschaftszweig, den das Land massiv vorantreibt. Das Zementwerk in Brevik gehört zum "Longship"-Projekt, das die norwegische Regierung mit rund 1,6 Milliarden Euro fördert. Praktisch für Heidelberg Materials: Norwegens Regierung übernimmt bis zu 85 Prozent der Investitionskosten der Anlage in Brevik.

Nachhaltige Alternativen für Beton fehlen

In Deutschland ist die Speicherung von CO2 sowohl an Land als auch im Meer bisher nicht erlaubt. Die Skepsis ist groß, Umweltverbände bezweifeln, dass CO2 tatsächlich sicher gespeichert werden kann. Auch Robert Habeck hatte sich in seiner Zeit als Landespolitiker in Schleswig-Holstein noch klar dagegen positioniert. Das hat sich geändert: Er will ein Gesetz auf den Weg bringen, das die CO2-Speicherung auch in Deutschland ermöglicht. Geplant war es für 2023, bisher lässt die Carbon-Management-Strategie seines Ministeriums jedoch auf sich warten. Wenn das Land bis 2045 klimaneutral sein will, argumentiert Habeck, führe an CCS kein Weg vorbei. Aus diesem Grund begrüßen auch große norwegische Umweltverbände das Projekt in Brevik. "Es gibt keinen breiten Widerstand, da es sich um die Zementindustrie handelt", sagt Fredrik Nordbø vom WWF Norwegen. Seine Kritik richtet sich lediglich an die Öl- und Gaslobby, die CCS gerne als Klimalösung präsentiert, um weiterzumachen wie bisher. Denn während es bei Öl und Gas durchaus nachhaltige Alternativen gibt, fehlen diese für Beton bisher – zumindest um ihn in dem Maßstab ersetzen zu können, wie er derzeit weltweit eingesetzt wird.

Für Heidelberg Materials sind CCS und CCU die wesentlichen Schritte auf dem Weg zur geplanten Klimaneutralität 2050. Das U steht dabei für Utilization, also die Weiterverwendung des CO2 – etwa als Kohlensäure in Mineralwasser. Zehn Millionen Tonnen des Treibhausgases will der Konzern bis 2030 dank CCS und CCU vermeiden. Das sind jedoch nicht einmal 20 Prozent davon, was Heidelberg Materials derzeit jedes Jahr in die Luft pustet.

Dabei gebe es durchaus andere, wirkungsvollere Wege, um Emissionen zu reduzieren, sagt Karen Louise Scrivener, Leiterin des Labors für Baumaterialien an der Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne und bekannt für ihre bahnbrechenden Arbeiten zu zementartigen Materialien. CCS und CCU würden zwar immer Teil des Wegs sein. "CCS ist allerdings um ein Vielfaches teurer als die meisten anderen Ansätze und erhöht die Kosten für Zement um das Zwei- bis Vierfache." Außerdem ist die Technik sehr energieintensiv.

Doch die Alternativen klingen weit weniger funkelnd als eine Anlage, die das lästige Problem einfach im Meeresboden verschwinden lässt. Scriveners Formel, um CO2 zu reduzieren: erstens den Klinkeranteil im Zement durch alternative zementartige Materialien – wie kalzinierten Ton – verringern. Zweitens: die Zementmenge im Beton durch alternative Zusatzmittel reduzieren. Und Drittens: die Menge des Betons bei Bauprojekten durch kluge Planung verringern. 70 bis 80 Prozent der Emissionen, schätzt Scrivener, ließen sich so einsparen. Heidelberg Materials verwendet diese Verfahren durchaus wie andere Zementhersteller auch. "Sie nutzen sie, aber nicht genug", sagt Scrivener.

Wie stark der Konzern die Emissionen durch solche Verfahren, also ohne den Einsatz von CCS und CCU, bis 2050 senken will, kann die Pressestelle nicht sagen. Von Achten hat sich auch kein Ziel dafür gesetzt, wie viele Millionen Tonnen des Baustoffs sein Unternehmen im Jahr 2050 produzieren will und wie viel CO2 das insgesamt verursachen darf. Selbst wenn das Unternehmen seine Klimaziele erreicht, könnten die Emissionen also sogar steigen. Wissenschaftler:innen nennen das den Rebound-Effekt: Nur weil ein Prozess effizienter wird, heißt das nicht, dass unterm Strich weniger Energie verbraucht wird.

Das kritisiert auf der Hauptversammlung im Mai auch Line Nideggen von Fridays for Future. Entkräften kann von Achten ihre Kritik nicht. Am Nachmittag, als die meisten Aktionär:innen den SNP Dome bereits verlassen haben und sich auf der Kundgebung hinter der Halle mehr Menschen versammeln als drinnen, steigt er in einer Pause von der Tribüne herab, sucht das Gespräch mit seinen Kritiker:innen und lädt sie nach Norwegen ein. Und er bricht noch einmal eine Lanze für den Zement: den man eben einfach brauche, für Häuser, für Infrastruktur: "Oder sollen wir die Autobahnen aus Holz bauen?" Nö, entgegnet Nideggen: "Wir könnten einfach weniger Auto fahren."


Dieser Text ist zuerst in der Ausgabe 3 des "Magazin bloq" erschienen, dem gemeinnützigen Gesellschaftsmagazin für Lokaljournalismus in Mannheim, Heidelberg, Ludwigshafen und der Region.

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2 Kommentare verfügbar

  • Grem
    am 03.01.2024
    Antworten
    Nicht zu vergessen:
    man sollte Klimaschützern einmal vorrechnen, wie viel CO2 für den Bau eines Windrades erzeugt werden und wie lange es dann dauert, diese Bilanz auszugleichen...
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